Protest mit Regel 69, saubere Abarbeitung ?

In diesem Forum werden Fragen rund um das Regelwerk des Segelns beantwortet. Betreut wird das Forum von Ulrich Finckh, Internationaler Schiedsrichter, Mitglied im Racing Rules Committee der ISAF und Betreiber der Seite http://www.finckh.org.

Protest mit Regel 69, saubere Abarbeitung ?

Beitragvon Piri-Piri » Mo 9. Aug 2021, 10:28

Boot A und B begegnen sich an einer Leebahnmarke, A klar voraus beim Eintritt in die Zone.
B schiebt sich zwischen Bahnmarke und Boot A. Der Klassiker.
B fährt weiter, freut sich... und zeigt Boot A den Stinkefinger....
A ruft "Protest" und protestiert fristgerecht an Land.
Im Formular angegebene Regeln: 12, 18.2 b, 18.2 e, 69

Die internationale Jury befragt beide Parteien in der Anhörung. Zu der Wegerechtsverletzung gibt es keine Zeugen. Aussage gegen Aussage, ob beim Eintritt in die Zone bereits eine Überlappung bestand.

Unstrittig: Boot B bestätigt das Zeigen des Stinkefingers und entschuldigt sich.

Ohne weitere Begründung wird der Protest abgewiesen.

1. Wäre 18.2 e grundsätzlich hier zu Gunsten des Protestführers anzuwenden gewesen ?
2. Wenn Regel 69 aufgeschrieben wird, sollte man dies grundsätzlich von der Wegerechtsverletzung entkoppeln ?
3. Wäre nicht eine Verwarnung angebracht gewesen für den unstrittigen Vorfall ?

Mit der Anwendung des Verfahrens nach Regel 69 habe ich wenig Erfahrung. Es war nur eine Geste ohne Zuruf oder Tätlichkeit. Verwarnung wäre für mich ok gewesen.
Gibt es irgendwo ein Prüfschema + Ablauf für das Verfahren nach 69 ? Das möchte natürlich keiner falsch machen...., wenn man mal in die Situation selber kommt.
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Re: Protest mit Regel 69, saubere Abarbeitung ?

Beitragvon uli_finckh » Mo 9. Aug 2021, 11:06

Zunächst ist der ganze Vorfall ein Protest, bei dem das Schiedsgericht oder die Jury einen Sachverhalt feststellen muss. Es ist nicht regelkonform, den inhaltlichen Wegerechtsverstoß ohne jegliche Begründung abzuweisen. In einer solchen Begründung können durchaus auch Zweifel formuliert werden.
Nun zu Regel 69, das im Protestformular erwähnt wurde.
Nach WR 60.5 darf ein Boot nicht wegen eines Verstoßes gegen Regel 69 protestieren.
Nach WR 60.1(c) darf ein Boot aber dem Protestkomitee über einen Vorfall berichten und beantragen, dass das Protestkomitee Maßnahmen nach WR 69.2(b) ergreift. Eine Erwähnung des Stinkefingers und WR 69 im Protestformular kann als ein Antrag gemäß WR 60.1(c) aufgefasst werden.
Daraus folgt für das Protestkomitee im folgenden Fall:
Nach Abhandlung des Protestes, wie beschrieben, sollte das Protestkomitee entscheiden, ob es eine Anhörung nach WR 69 einleiten will oder nicht.
Entscheidet es, eine Anhörung einzuberufen, muss es dies schriftlich der Person mitteilen, gegen die der Vorwurf erhoben wird.
Entscheidet es, keine Anhörung einzuberufen, sollte es dem Antragsteller dies mitteilen.
Sinnvollerweise sollte vor einer solchen Entscheidung das Protestkomitee auch den Antragsteller fragen, inwieweit die Entschuldigung ausreicht und ob diese angenommen wurde.
Auf keinen Fall sollten solche Entgleisungen aus Bequemlichkeit unter den Teppich gekehrt werden.
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Re: Protest mit Regel 69, saubere Abarbeitung ?

Beitragvon uli_finckh » Mo 9. Aug 2021, 17:35

Noch eine Ergänzung zu WR 18.2(e):
Regel 18.2(e) ist eine Regel, die dem Schiedsgericht eine Entscheidungshilfe gibt, wenn es die Fakten Zweifel aufkommen lassen, ob eine Überlappung rechtzeitig hergestellt wurde oder rechtzeitig gelöst wurde, mit der Zielsetzung, dass dann eher der Zustand vor Erreichen der Zone zu nehmen ist.
Wenn ein Protestierender wie hier bereits im Protest Regel 18.2(e) angibt, dann dokumentiert er damit, das er selbst Zweifel hat. Falls dann der Protestgegner keine Zweifel hat, ist dies für den Protesterenden eine schlechte Ausgangslage.

Noch eine Ergänzung zu unsportlichen Gesten und Worten zum Zeitpunkt eines Vorfalls:
In diesen Fällen ist immer die angespannte Wettkampfsituation und die Gesten und Worte auch der anderen Partei in die Beurteilung miteinzubeziehen.
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