von 306 » Mo 31. Mär 2014, 11:09
Ich meine, daß wir in der Argumentation zumindest zwei Aspekte auseinanderhalten müssen, (a) den Ruf und (b) die Wende des rufenden Bootes.
Vielleicht zuerst zu (b).
Nach 20.2(b) muß das rufende Boot „sobald wie möglich“ wenden, „wenn das angerufene Boot entsprechend reagiert hat“. Die Reaktion des angerufenen Bootes ist in 20.2(c) geregelt mit der Möglichkeit eines Zwischenschrittes aus 20.3, der noch nicht zur Reaktion selbst zählt. In unseren Situationen ist die Reaktion des angerufenen Bootes immer die Wende, nicht der Ruf „Wenden Sie“. Meiner Ansicht nach muß also das rufende Boot nach dem Wortlaut der Regel auf jeden Fall wenden, auch wenn das dem Zweck der Regel, einem Hindernis ausweichen zu können (so steht’s in 20.1 erster Satz), nicht mehr dient, weil das angerufene Boot erst wendet, wenn China in Sicht kommt, oder aus einem anderen Grund das Hindernis längst keines mehr ist. Ich glaube daher auch nicht, daß das rufende Boot mit so einer rein formalen Wende einer Strafe entgehen kann, die es an anderer Stelle schon verwirkt hat. Es könnte höchstens sich eine Strafe zuziehen, weil es, bisher ohne Regelverstoß, an dieser Stelle die Regel minutiös, wenn auch sinnfrei befolgt.
Daher jetzt (a) zum Ruf und dazu, wann er zu erfolgen hat.
Die Regel 20.1 spricht ja nur davon, daß das Boot „bei Annäherung an ein Hindernis“ rufen kann. Das ist zeitlich gesehen ziemlich grob. Der eigentliche Zeitpunkt ergibt sich aus dem Zweck des Rufes, wie er in der Regel formuliert ist. Der Ruf soll dem Boot Raum verschaffen, um „wenden und … ausweichen zu können“. Das legt also schon mal einen letzten Zeitpunkt fest : Sobald der Ruf diesem Zweck nicht mehr dienen kann, kommt er zu spät und fällt nicht mehr unter Regel 20. (Das ist der Regelverstoß von Blau in 20_140330.pdf .
Der früheste Zeitpunkt des Rufes ergibt sich indirekt aus 20.2(c) in Verbindung mit 20.2(a) und (b). Einerseits muß das angerufene Boot „Zeit“ haben, um zu reagieren (20.2(a)), andererseits muß es in jedem Falle (20.2(b)) in der festgelegten Form „so bald wie möglich“ bzw. „sofort“ reagieren (20.2(c)). Dieser Automatismus wiederum legt dem rufenden Boot aus dem Zweck aus 20.1, 1.Satz die Verpflichtung auf, erst dann zu rufen, wenn es Raum benötigt. In diesem Zusammenhang muß man auch die Ausnahme (a) und vielleicht auch (b) sehen. Der Ruf ist gewissermaßen nur die letzte Lösung, wenn anderes nicht in Frage kommt. Daher auch ISAF 33 : „When a boat approaching an obstruction hails for room to tack before safety requires her to do so, she breaks rule 20.1(a)“.
Zusammenfassend also : Gerufen werden darf erst ab dem Zeitpunkt, wenn das (am Wind segelnde) Boot keine anderen Lösung mehr als eine wesentliche Kursänderung hat. Gerufen werden darf nur solange, wie das angerufene Boot durch seine Wende dem rufenden Boot noch Raum für seine Wende vor dem Hindernis verschaffen kann.
Unter der Voraussetzung, daß alle angerufenen Boote ihrer Verpflichtung nachgekommen sind und nicht ihrerseits gegen 20 verstoßen haben, ist also nur ein Ruf, dem eine Wende vor dem Hindernis folgt, ein regelgerechter Ruf ist. Nur wenn durch einen Regelverstoß eines angerufenen Bootes die Wende nicht mehr vor dem Hindernis möglich ist, stellt sich die Frage nach der Formalwende gem. 20.2(d).
Und damit sitzen wir in der Tinte. Denn das Manöver von Willi Göhl ist ja wohl legal. Es führt aber zu einem Regelverstoß des rufenden Bootes, den das Boot weder durch Tun noch durch Unterlassen begangen hat und – es kommt noch schöner – für den es nicht unter 64.1(a) entlastet werden kann, weil kein anderes Boot gegen eine Regel verstoßen hat.
Die Situationen 20_140329a.pdf und 20_140329b.pdf kommen ohne die taktische Virtuosität von Gelb aus, gehen aber in die gleiche Richtung. Man könnte allenfalls noch argumentieren, daß Blau nicht damit rechnen mußte, daß alle Boote sofort reagieren. In diesem Falle würde ich den Zeitpunkt des Rufes von Blau noch als durch den ersten Satz von 20.1 gedeckt ansehen. (Falls nötig, nimmt man noch mehr gelbe Boote dazu, eine ganze Parade, die die Luvmarke anliegt, damit Blau nicht ohne eine wesentliche Kursänderung auskommt.) Da würde ich einem Protest gegen Blau nicht nachgeben (aber wortklauberisch verlangen, daß Blau hinter den gelben Booten wendet.)
Bei der Formulierung der Regel ist eine komplexe Situation mit mehreren Booten wohl nicht bedacht worden, auch wenn in 20.3 Mehr-Boot-Situationen schon angedeutet sind.